Johannes Teyssen (62), 2010 bis Ende 2021 E.ON-Vorstandschef, zur Lage:
Wie gefährlich ist ein Gasembargo für die deutsche Wirtschaft?
„Hochgefährlich. Es geht um einen weitgehenden Zusammenbruch der industriellen Grundstruktur, die Erdgas braucht und der ganzen Wertschöpfungsketten dahinter. Wenn man jemals verstanden hat, wieviel Chemie in endlos vielen Produkten ist, weiß man, wenn Großstandorte wie Ludwigshafen nichts mehr produzieren, wie schnell dann ganz andere Industrien, die heute gar nicht darüber nachdenken, in Lieferengpässe kommen. Und die Logistik weltweit klappt gerade nicht. Das man dann die Dinge woanders bekommt, kann man vergessen. Ich glaube, wir reden dann von einer schweren Rezession.
Dann lese ich von Vergleichen zu Covid. Bei Covid hatten wir ein paar Wochen mal Dinge geschlossen und die Industrie lief weiter, es war nur der Retail-Sektor geschlossen. Wir reden dieses Mal davon, dass wir über Monate, wenn wir Pech haben, über zwei Jahre Strukturen nicht mehr versorgen können. Ich denke, dass können sich Menschen überhaupt nicht vorstellen. In dieser Phase freiwillig dies auszulösen, halte ich für unverantwortlich.“
Trotzdem gibt es einige Wirtschafsweise, Ökonomen und „Wissenschaftler“, die ein Gasembargo fordern. Was verstehen die nicht?
„Volkswirte haben kein tiefes Verständnis für Wertschöpfungsketten und für betriebswirtschaftliche Zusammenhänge, sondern sie kommen immer mit einer relativ großen Makrosicht, also volkswirtschaftlichen Gesamtmodellen. Da nimmt man dann einen gewissen Prozentfaktor heraus und sagt, der wird das schon angemessen abbilden. Ich glaube, der Teufel steckt hier im Detail. Man muss verstehen, dieses Produkt ist nicht nur ein Brennstoff oder Energiestoff, das ist ein Rohstoff für bestimmte Produkte und ist auch nicht ersetzbar. Und das jetzt plötzlich aus Amerika, aus dem mittleren Osten beliebige Mengen kommen, da stellen wir gerade fest, dass stimmt alles nicht. Die sind nicht da. Die sind simpel nicht vorhanden.
Daher glaube ich, die Modelle sind zu abstrakt, zu theoretisch und berücksichtigen nicht die Mengenströme und Zusammenhänge zwischen Betrieben und Unternehmen. Die gleichen Menschen, die heute in Umfragen sagen, wir sollten mal den Mut haben, wenn diese dann privat erleben, was es für sie bedeutet, für ihre Arbeitsstelle, für ihre Zukunft bin ich ziemlich sicher, vier Monate, nachdem es passiert ist, geht die nächste Umfrage ganz anders aus. Nur dummerweise kann man es dann nicht einfach wieder anschalten.“
War der Atomausstieg ein Fehler?
„Es ist ganz simpel: Man darf immer nur aus etwas raus, wenn man vorher in etwas reingegangen ist. Wir haben immer diese Fantasie, wir gehen schon mal raus, aber übermorgen gehen wir irgendwo rein. Und das glauben wir ganz fest und nehmen uns bei den Händen. Und jetzt haben wir alle festgestellt, die letzten Jahre ist kaum richtig Windkraft gebaut worden, ist irgendwie anders als der Plan, ist dumm gelaufen. Dann wollte man 30 Gaskraftwerke bauen, um die Lücken zu schließen, jetzt gibt es kein Gas. Das zeigt, die Wirklichkeit überrascht einen immer wieder.“
Wie realistisch ist die Energiewende?
„Wir werden bei allen Zumutungen und intensiver Inanspruchnahme unserer Landschaften niemals in der Lage sein, den Primärenergiebedarf Deutschlands aus deutschen Erneuerbaren zu decken. Das weiß jeder. Deshalb werden wir riesige Mengenströme, die wir heute als Kohle, Öl, Uran, Gas einführen, als Wasserstoff oder Ammoniak oder in welcher Form auch immer einführen müssen. Ohne diese Ströme funktioniert die Energiewende nicht. Nur diese Produkte lassen sich hinreichend speichern, rückumwandeln und flexibel einsetzen. Nur mit stochastischen, unsicheren Erzeugungseinheiten in Deutschland geht es überhaupt nicht.“
Was halten Sie von Wasserstoff?
„Ich habe Berechnungen für grünen Strom aus Saudi-Arabien und Australien für deutlich unter 2 Cent gesehen. Wenn sie einfach die Kosten rechnen, bekommen sie damit sehr plausible Wasserstoffpreise für Deutschland hin. Ich habe nur nicht ganz verstanden, warum sollen uns die Saudis und alle anderen den Wasserstoff zu billigsten Kosten geben und nicht die Marge abgreifen?“
Wie entwickelt sich der Markt?
„Beunruhigend ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie zum Rest der Welt. Was die Menschen nicht sehen: Diese Energiekrise findet präzise nur in Europa statt. Diese Energiekrise gibt es in Amerika nicht. Diese Energiekrise findet in Asien fast nicht statt. Dies ist eine europäische, zum guten Teil hausgemachte Energiekrise, die im vierten Quartal 2021 begonnen hat, also vor dem Ukraineeinmarsch, völlig unabhängig davon. Ich glaube manchen amerikanischen Volkswirten, die sagen: Deutschland wird sich auf einen nachhaltigen Wohlstandsverlust einstellen müssen.
Wir wollen es besser, nachhaltiger und teurer machen. Dann werden wir auch den Preis bezahlen müssen. Das wird die Strukturen im Land ganz wesentlich verändern. Wir reden hier von einer Zeitenwende. Das ist nichts, was wir wie Covid aussitzen und in ein oder zwei Jahren ist es dann weg. Das wird vielleicht eine Generation prägen.
Erdgas wird dauerhaft teurer werden. LNG kostet massiv mehr als russisches Erdgas aus Pipelines. Das wussten wir, deshalb wollten wir lieber Pipelinegas. Wenn wir das nicht mehr in den Mengen oder gar nicht mehr wollen, dann erkaufen wir das locker mit einer Preisverdopplung des Rohproduktes.
Bei Strom rechne ich mindestens noch fünf bis sechs Jahre mit einem höheren Preisniveau, weil wir in Europa Engpässe haben. Wir haben nicht die Kapazität. Frankreich kann sich nicht einmal mehr selbst versorgen, das ist eine Katastrophe. An vielen Stellen sind die Kapazitäten auch eng und wenn wir jetzt auch noch Erdgas zurückschrauben müssen, weil wir das Produkt nicht haben, rechne ich für viele Jahre mit einem deutlich höheren Preisniveau.“